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Ich bin ein elender Mann, der die Rute seines Grimmes sehen muß.

Er hat mich geführt und lassen gehen in die Finsternis und nicht in Licht.

Er hat seine Hand gewendet wider mich und handelt gar anders mit mir für und für.

Er hat mir Fleisch und Haut alt gemacht und mein Gebein zerschlagen.

Er hat mich verbaut und mich mit Galle und Mühe umgeben.

Er hat mich in Finsternis gelegt wie die, so längst tot sind.

Er hat mich vermauert, daß ich nicht heraus kann, und mich in harte Fesseln gelegt.

Und wenn ich gleich schreie und rufe, so stopft er die Ohren zu vor meinem Gebet.

Er hat meinen Weg vermauert mit Werkstücken und meinen Steig umgekehrt.

10 Er hat auf mich gelauert wie ein Bär, wie ein Löwe im Verborgenen.

11 Er läßt mich des Weges fehlen. Er hat mich zerstückt und zunichte gemacht.

12 Er hat seinen Bogen gespannt und mich dem Pfeil zum Ziel gesteckt.

13 Er hat aus dem Köcher in meine Nieren schießen lassen.

14 Ich bin ein Spott allem meinem Volk und täglich ihr Liedlein.

15 Er hat mich mit Bitterkeit gesättigt und mit Wermut getränkt.

16 Er hat meine Zähne zu kleinen Stücken zerschlagen. Er wälzt mich in der Asche.

17 Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben; ich muß des Guten vergessen.

18 Ich sprach: Mein Vermögen ist dahin und meine Hoffnung auf den HERRN.

19 Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen, mit Wermut und Galle getränkt bin!

20 Du wirst ja daran gedenken; denn meine Seele sagt mir es.

21 Das nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch.

22 Die Güte des HERRN ist's, daß wir nicht gar aus sind; seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,

23 sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.

24 Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.

25 Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und der Seele, die nach ihm fragt.

26 Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.

27 Es ist ein köstlich Ding einem Mann, daß er das Joch in seiner Jugend trage;

28 daß ein Verlassener geduldig sei, wenn ihn etwas überfällt,

29 und seinen Mund in den Staub stecke und der Hoffnung warte

30 und lasse sich auf die Backen schlagen und viel Schmach anlegen.

31 Denn der HERR verstößt nicht ewiglich;

32 sondern er betrübt wohl, und erbarmt sich wieder nach seiner Güte.

33 Denn er nicht von Herzen die Menschen plagt und betrübt,

34 als wollte er die Gefangenen auf Erden gar unter seine Füße zertreten

35 und eines Mannes Recht vor dem Allerhöchsten beugen lassen

36 und eines Menschen Sache verkehren lassen, gleich als sähe es der HERR nicht.

37 Wer darf denn sagen, daß solches geschehe ohne des HERRN Befehl

38 und daß nicht Böses und Gutes komme aus dem Munde des Allerhöchsten?

39 Wie murren denn die Leute im Leben also? Ein jeglicher murre wider seine Sünde!

40 Und laßt uns erforschen und prüfen unser Wesen und uns zum HERRN bekehren!

41 Laßt uns unser Herz samt den Händen aufheben zu Gott im Himmel!

42 Wir, wir haben gesündigt und sind ungehorsam gewesen; darum hast du billig nicht verschont;

43 sondern du hast uns mit Zorn überschüttet und verfolgt und ohne Barmherzigkeit erwürgt.

44 Du hast dich mit einer Wolke verdeckt, daß kein Gebet hindurch konnte.

45 Du hast uns zu Kot und Unflat gemacht unter den Völkern.

46 Alle unsre Feinde sperren ihr Maul auf wider uns.

47 Wir werden gedrückt und geplagt mit Schrecken und Angst.

48 Meine Augen rinnen mit Wasserbächen über den Jammer der Tochter meines Volks.

49 Meine Augen fließen und können nicht ablassen; denn es ist kein Aufhören da,

50 bis der HERR vom Himmel herabschaue uns sehe darein.

51 Mein Auge frißt mir das Leben weg um die Töchter meiner Stadt.

52 Meine Feinde haben mich gehetzt wie einen Vogel ohne Ursache;

53 sie haben mein Leben in einer Grube fast umgebracht und Steine auf mich geworfen;

54 sie haben mein Haupt mit Wasser überschüttet; da sprach ich: Nun bin ich gar dahin.

55 Ich rief aber deinen Namen an, HERR, unten aus der Grube,

56 und du erhörtest meine Stimme: Verbirg deine Ohren nicht vor meinem Seufzen und Schreien!

57 Du nahest dich zu mir, wenn ich dich anrufe, und sprichst: Fürchte dich nicht!

58 Du führest, HERR, die Sache meiner Seele und erlösest mein Leben.

59 Du siehest, HERR, wie mir so Unrecht geschieht; hilf mir zu meinem Recht!

60 Du siehst alle ihre Rache und alle ihre Gedanken wider mich.

61 HERR, du hörest ihr Schmähen und alle ihre Gedanken über mich,

62 die Lippen meiner Widersacher und ihr dichten wider mich täglich.

63 Schaue doch, sie sitzen oder stehen auf, so singen sie von mir ein Liedlein.

64 Vergilt ihnen, HERR, wie sie verdient haben!

65 Laß ihnen das Herz erschrecken, laß sie deinen Fluch fühlen!

66 Verfolge sie mit deinem Grimm und vertilge sie unter dem Himmel des HERRN.

Wie ist das Gold so gar verdunkelt und das feine Gold so häßlich geworden und liegen Steine des Heiligtums vorn auf allen Gassen zerstreut!

Die edlen Kinder Zions, dem Golde gleich geachtet, wie sind sie nun den irdenen Töpfen gleich, die ein Töpfer macht!

Auch Schakale reichen die Brüste ihren Jungen und säugen sie; aber die Tochter meines Volks muß unbarmherzig sein wie ein Strauß in der Wüste.

Dem Säugling klebt seine Zunge am Gaumen vor Durst; die jungen Kinder heischen Brot, und ist niemand, der es ihnen breche.

Die zuvor leckere Speisen aßen, verschmachten jetzt auf den Gassen; die zuvor in Scharlach erzogen sind, die müssen jetzt im Kot liegen.

Die Missetat der Tochter meines Volks ist größer denn die Sünde Sodoms, die plötzlich umgekehrt ward, und kam keine Hand dazu.

Ihre Fürsten waren reiner denn der Schnee und klarer denn Milch; ihre Gestalt war rötlicher denn Korallen; ihr Ansehen war wie Saphir.

Nun aber ist ihre Gestalt so dunkel vor Schwärze, daß man sie auf den Gassen nicht kennt; ihre Haut hängt an den Gebeinen, und sind so dürr wie ein Scheit.

Den Erwürgten durchs Schwert geschah besser als denen, so da Hungers starben, die verschmachteten und umgebracht wurden vom Mangel der Früchte des Ackers.

10 Es haben die barmherzigsten Weiber ihre Kinder selbst müssen kochen, daß sie zu essen hätten im Jammer der Tochter meines Volks.

11 Der HERR hat seinen Grimm vollbracht; er hat seinen grimmigen Zorn ausgeschüttet; er hat zu Zion ein Feuer angesteckt, das auch ihre Grundfesten verzehrt hat.

12 Es hätten's die Könige auf Erden nicht geglaubt noch alle Leute in der Welt, daß der Widersacher und Feind sollte zum Tor Jerusalems einziehen.

13 Es ist aber geschehen um der Sünden willen ihrer Propheten und um der Missetaten willen ihrer Priester, die darin der Gerechten Blut vergossen.

14 Sie gingen hin und her auf den Gassen wie die Blinden und waren mit Blut besudelt, daß man auch ihre Kleider nicht anrühren konnte;

15 man rief sie an: Weicht, ihr Unreinen, weicht, weicht, rührt nichts an! Wenn sie flohen und umherirrten, so sagte man auch unter den Heiden: Sie sollten nicht länger dableiben.

16 Des HERRN Zorn hat sie zerstreut; er will sie nicht mehr ansehen. Die Priester ehrte man nicht, und mit den Alten übte man keine Barmherzigkeit.

17 Noch gafften unsre Augen auf die nichtige Hilfe, bis sie müde wurden, da wir warteten auf ein Volk, das uns doch nicht helfen konnte.

18 Man jagte uns, daß wir auf unsern Gassen nicht gehen durften. Da kam auch unser Ende; unsre Tage sind aus, unser Ende ist gekommen.

19 Unsre Verfolger waren schneller denn die Adler unter dem Himmel; auf den Bergen haben sie uns verfolgt und in der Wüste auf uns gelauert.

20 Der Gesalbte des HERRN, der unser Trost war, ist gefangen worden, da sie uns verstörten; des wir uns trösteten, wir wollten unter seinem Schatten leben unter den Heiden.

21 Ja, freue dich und sei fröhlich, du Tochter Edom, die du wohnst im Lande Uz! denn der Kelch wird auch über dich kommen; du mußt auch trunken und entblößt werden.

22 Aber deine Missetat hat ein Ende, du Tochter Zion; er wird dich nicht mehr lassen wegführen. Aber deine Missetat, du Tochter Edom, wird er heimsuchen und deine Sünden aufdecken.

Gedenke, HERR, wie es uns geht; schaue und siehe an unsre Schmach!

Unser Erbe ist den Fremden zuteil geworden und unsre Häuser den Ausländern.

Wir sind Waisen und haben keinen Vater; unsre Mütter sind Witwen.

Unser Wasser müssen wir um Geld trinken; unser Holz muß man bezahlt bringen lassen.

Man treibt uns über Hals; und wenn wir schon müde sind, läßt man uns doch keine Ruhe.

Wir haben uns müssen Ägypten und Assur ergeben, auf daß wir Brot satt zu essen haben.

Unsre Väter haben gesündigt und sind nicht mehr vorhanden, und wir müssen ihre Missetaten entgelten.

Knechte herrschen über uns, und ist niemand, der uns von ihrer Hand errette.

Wir müssen unser Brot mit Gefahr unsers Lebens holen vor dem Schwert in der Wüste.

10 Unsre Haut ist verbrannt wie in einem Ofen vor dem greulichen Hunger.

11 Sie haben die Weiber zu Zion geschwächt und die Jungfrauen in den Städten Juda's.

12 Die Fürsten sind von ihnen gehenkt, und die Person der Alten hat man nicht geehrt.

13 Die Jünglinge haben Mühlsteine müssen tragen und die Knaben über dem Holztragen straucheln.

14 Es sitzen die Alten nicht mehr unter dem Tor, und die Jünglinge treiben kein Saitenspiel mehr.

15 Unsers Herzens Freude hat ein Ende; unser Reigen ist in Wehklagen verkehrt.

16 Die Krone unsers Hauptes ist abgefallen. O weh, daß wir so gesündigt haben!

17 Darum ist auch unser Herz betrübt, und unsre Augen sind finster geworden

18 um des Berges Zion willen, daß er so wüst liegt, daß die Füchse darüber laufen.

19 Aber du, HERR, der du ewiglich bleibst und dein Thron für und für,

20 warum willst du unser so gar vergessen und uns lebenslang so gar verlassen?

21 Bringe uns, HERR, wieder zu dir, daß wir wieder heimkommen; erneuere unsre Tage wie vor alters!

22 Denn du hast uns verworfen und bist allzusehr über uns erzürnt.

Hoffnung in der größten Not

Seht mich an – wie viel Elend muss ich ertragen!
Ich bin der Mann, den Gott mit seiner Rute schlägt.
Voller Zorn hat er mich fortgejagt
und immer tiefer in die Finsternis getrieben.
Gegen mich sind seine Hiebe gerichtet,
den ganzen Tag trifft mich seine strafende Hand.
Davon bin ich abgemagert und krank geworden;
all meine Knochen hat er mir zerschlagen.
Bitteres Leid und Trauer haben mich überwältigt,
Gott selbst hat mich darin eingeschlossen.
In völliger Dunkelheit lässt er mich zurück,
als wäre ich schon lange tot.
Mit schweren Ketten hat er mich gefesselt
und mein Gefängnis mit hohen Mauern umgeben.
Wenn ich schreie und um Hilfe rufe,
so verschließt er sich meinem Gebet.
Wohin ich mich wende, jeder Weg ist versperrt –
Gott lässt mich nicht entkommen!
10 Er hat mir aufgelauert wie ein Bär,
wie ein Löwe in seinem Versteck.
11 Er hat mich vom Weg abgedrängt,
mich zerfleischt und hilflos liegen lassen.
12 Er spannte seinen Bogen
und zielte mit seinen Pfeilen auf mich.
13 Immer wieder griff er in seinen Köcher
und schoss mir mitten durchs Herz.
14 Mein Volk verlacht mich Tag für Tag,
sie singen Spottlieder auf mich.
15 Gott reicht mir bittere Kräuter zu essen
und füllt mir den Becher mit Wermut.
16 Er gibt mir Steine statt Brot,
er tritt mich tief in den Staub.
17 Was Frieden und Glück ist, weiß ich nicht mehr.
Du, Herr, hast mir alles genommen.

18 Darum sagte ich: »Meine Kraft ist geschwunden,
und meine Hoffnung auf den Herrn ist dahin.
19 Meine Not ist groß, ich habe keine Heimat mehr.
Schon der Gedanke daran macht mich bitter und krank.
20 Und doch muss ich ständig daran denken
und bin vor lauter Grübeln am Boden zerstört.«

21 Aber eine Hoffnung bleibt mir noch,
an ihr halte ich trotz allem fest:
22 Die Güte des Herrn hat kein Ende,[a]
sein Erbarmen hört niemals auf,
23 es ist jeden Morgen neu!
Groß ist deine Treue, o Herr!
24 Darum setze ich meine Hoffnung auf ihn,
der Herr ist alles, was ich brauche[b].
25 Denn der Herr ist gut zu dem, der ihm vertraut
und ihn von ganzem Herzen sucht.
26 Darum ist es das Beste, geduldig zu sein
und auf die Hilfe des Herrn zu warten.
27 Und es ist gut für einen Menschen,
wenn er schon früh lernt, Schweres zu tragen.
28 Wenn Gott ihm die Last auferlegt,
soll er es annehmen und nicht aufbegehren.
29 Demütig beuge er sich tief in den Staub,
vielleicht gibt es ja noch Hoffnung für ihn.
30 Wenn man ihn schlägt, soll er die Wange hinhalten
und die Demütigung still ertragen.

31 Denn wenn der Herr einen Menschen verstößt,
dann tut er es nicht für immer und ewig.
32 Er lässt ihn zwar leiden, aber erbarmt sich auch wieder,
denn seine Gnade und Liebe ist groß.
33 Wenn er strafen muss, hat er keine Freude daran,
sondern das Leid seiner Kinder schmerzt ihn auch selbst.

34 Es gibt so viel Unrecht in diesem Land:
Die Gefangenen werden mit Füßen getreten,
35 vor den Augen des höchsten Gottes
bringt man Unschuldige um ihr Recht.
36 Vor Gericht wird gelogen und betrogen –
meint ihr etwa, der Herr sieht das nicht?
37 Wer kann etwas geschehen lassen,
wenn der Herr es nicht befiehlt?
38 Alles Glück haben wir ihm zu verdanken,
und genauso kommt das Unglück aus seiner Hand.
39 Solange wir leben, brauchen wir uns nicht zu beklagen.
Sind es nicht unsere Sünden, für die Gott uns bestraft?
40 Kommt, wir wollen unser Leben sorgfältig prüfen
und wieder zurückkehren zum Herrn!
41 Ihm wollen wir unsere Herzen öffnen,
zu unserem Gott im Himmel die Hände erheben:
42 »Herr, wir haben gesündigt und dir die Treue gebrochen –
und das hast du uns nicht vergeben!
43 Stattdessen hast du dich in Zorn gehüllt,
du hast uns verfolgt und erbarmungslos getötet!
44 In einer dichten Wolke hast du dich verborgen,
kein Gebet konnte mehr zu dir durchdringen.
45 Du hast dafür gesorgt, dass die Völker uns wie Dreck behandeln,
zum Abschaum der Menschheit sind wir geworden.
46 Unsere Feinde stecken die Köpfe zusammen
und zerreißen sich das Maul über uns.
47 Angst und Schrecken haben uns gepackt,
überall erlebten wir Zerstörung und Tod.«

48 Mein geliebtes Volk ist dem Untergang nahe,
darum muss ich hemmungslos weinen.
49 Unaufhörlich fließen meine Tränen.
Ich werde so lange keine Ruhe finden,
50 bis der Herr vom Himmel herabschaut
und unser Schicksal endlich beachtet.
51 Mir bricht das Herz, wenn ich sehe,
wie es den Frauen in der Stadt ergeht.
52 Ich habe meinen Feinden nichts getan,
doch sie haben mich gefangen wie einen Vogel.
53 Sie stürzten mich lebend in einen Brunnen
und warfen Steine auf mich herab.
54 Das Wasser schlug über mir zusammen,
und ich dachte schon: »Das ist das Ende!«

55 Da schrie ich zu dir um Hilfe, o Herr,
tief unten aus der Grube flehte ich dich an,
56 deine Ohren nicht vor mir zu verschließen.
Und wirklich: Du hast mich erhört!
57 Als ich rief, kamst du mir ganz nahe
und sprachst: »Fürchte dich nicht!«
58 Herr, du bist für mich eingetreten
und hast mein Leben gerettet.
59 Du weißt, wie viel Unrecht ich erleiden musste.
Herr, schaffe du mir nun Recht!
60 Du kennst die Rachsucht meiner Feinde
und die Pläne, die sie gegen mich schmieden.
61 Herr, du hast gehört, wie sie mich schmähen,
ihre finsteren Intrigen sind dir nicht verborgen.
62 Tagein, tagaus verhöhnen sie mich,
immer ziehen sie über mich her.
63 Sieh sie dir an und hör doch die Spottlieder,
die sie von früh bis spät über mich singen!
64 Ich bitte dich: Vergelte es ihnen, o Herr!
Gib ihnen den gerechten Lohn für ihre Taten!
65 Lass ihre Herzen hart und verblendet sein,
ja, möge dein Fluch über sie kommen!
66 Verfolge sie, bis dein Zorn sie trifft,
und lass sie von deiner Erde verschwinden!

Jerusalems Elend

Ach, das Gold hat seinen Glanz verloren,
stumpf und matt ist es geworden.
Die kostbaren Steine des Tempels
liegen verstreut an allen Straßenecken.
Die jungen Männer Zions,
für uns so wertvoll wie reines Gold,
werden nun verächtlich behandelt
wie gewöhnliches Tongeschirr.
Selbst Schakale säugen ihre Jungen,
aber die Mütter meines Volkes
sind grausam zu ihren Kindern
wie ein Strauß in der Wüste[c].
Der Säugling schreit vor Durst,
die Zunge klebt ihm am Gaumen.
Kleine Kinder betteln um Brot,
doch niemand gibt ihnen ein Stück.
Wer früher nur das Feinste aß,
bricht nun vor Hunger auf der Straße zusammen.
Wer früher auf purpurfarbenen Kissen schlief,
liegt jetzt mitten im stinkenden Dreck.

Mein Volk hat schwer gesündigt –
schlimmer noch als die Leute von Sodom,
die plötzlich und ohne menschliches Zutun
ein schreckliches Ende fanden.
Einst waren unsere Fürsten gesund und schön:
Ihre Zähne blitzten so weiß wie Schnee,
und ihre Wangen schimmerten rot wie Korallen,
ihre ganze Erscheinung glich einem funkelnden Juwel.[d]
Jetzt aber ist ihr Gesicht dunkel wie Ruß,
sie sind bis auf die Knochen abgemagert,
und ihr Körper ist so spindeldürr geworden,
dass man sie auf der Straße nicht wiedererkennt.
Wer vom Schwert der Feinde durchbohrt wurde,
hatte es sogar noch besser als jene, die überlebten.
Sie verhungerten und starben einen qualvollen Tod,
weil keine Ernte mehr eingebracht werden konnte.
10 Am Ende war die Not so groß geworden,
dass mein Volk weder aus noch ein wusste.
Liebevolle Mütter haben dann aus lauter Verzweiflung
ihre eigenen Kinder gekocht und gegessen!

11 Der Herr hat seinem Zorn freien Lauf gelassen
und die sengende Glut über uns ausgegossen.
Er hat in der Stadt Zion ein Feuer gelegt,
das sie bis auf die Grundmauern niederbrannte.
12 Was niemand für möglich gehalten hätte,
ist nun vor den Augen der Völker geschehen:
Die Feinde sind in Jerusalem eingezogen,
im Triumph schritten sie durch seine Tore.
13 Es musste so kommen wegen der Schuld der Propheten
und wegen der Sünden, die die Priester begingen:
Unschuldige Menschen haben sie umgebracht –
und das inmitten der Stadt!
14 Jetzt taumeln sie selbst durch die Straßen
wie Blinde, die ihren Weg nicht finden.
Ihre Kleider sind so mit Blut besudelt,
dass niemand sie zu berühren wagt.
15 »Aus dem Weg!«, ruft man ihnen zu.
»Ihr seid unrein! Aus dem Weg! Rührt uns nicht an!«
So müssen sie fliehen und irren umher.
Sogar in anderen Ländern sagt man:
»Bei uns können sie nicht bleiben!«
16 Der Herr hat sich von ihnen abgewandt
und sie eigenhändig aus dem Land vertrieben.
Niemand mehr erweist den Priestern Respekt
oder erbarmt sich über die alten Männer.

17 Wir warteten unentwegt auf Hilfe,
doch alles Hoffen war vergeblich!
Das Volk, nach dem wir Ausschau hielten,
konnte uns auch nicht retten.
18 Die Feinde verfolgten uns auf Schritt und Tritt,
niemand wagte sich mehr auf die Straße.
Unsere Tage waren gezählt, wir waren verloren,
jetzt war unser Ende gekommen!
19 Die Verfolger stürzten sich so schnell auf uns
wie ein Adler, der auf seine Beute herabstößt.
Auf der Flucht ins Bergland holten sie uns ein,
und in der Wüste lauerten sie uns auf.
20 Unseren König, den der Herr auserwählt hat,
haben sie uns genommen, und mit ihm unser Leben!
Dabei dachten wir, er würde uns vor den Völkern schützen
wie ein Schatten vor der glühenden Sonne.

21 Lacht nur schadenfroh, ihr Edomiter im Land Uz!
Der Kelch mit Gottes Zorn kommt auch zu euch!
Ob ihr wollt oder nicht, ihr müsst daraus trinken,
dann werdet ihr taumeln und nackt am Boden liegen.
22 Freue dich, Zion, deine Schuld ist gesühnt!
Gott wird dich nie mehr in die Gefangenschaft führen.
Aber eure Schuld, ihr Edomiter, bringt er ans Licht!
Ja, er wird euch zur Rechenschaft ziehen.

Herr, führe uns zurück zu dir!

Herr, vergiss nicht, was man uns angetan hat!
Sieh doch, wie wir gedemütigt werden!
Unser Grund und Boden gehört einem anderen Volk,
und in unseren Häusern wohnen jetzt Fremde!
Wir sind verlassen wie Waisenkinder,
unsere Mütter schutzlos wie Witwen!
Unser eigenes Trinkwasser müssen wir bezahlen,
und auch Brennholz bekommen wir nur gegen Geld.
Der Feind sitzt uns unbarmherzig im Nacken;
wir sind erschöpft, doch man gönnt uns keine Ruhe.
Wir unterwarfen uns den Ägyptern und Assyrern,
um genug Brot zu essen zu haben.
Unsere Vorfahren leben schon lange nicht mehr,
wir aber müssen nun für ihre Schuld bezahlen.
Sklaven sind zu Herrschern über uns geworden,
und keiner schützt uns vor ihrer Willkür.
Unter Lebensgefahr müssen wir nach Nahrung suchen,
denn Räuberbanden machen das ganze Land unsicher.
10 Wir sind vom Hunger ausgezehrt,
unsere Körper glühen vor Fieber.
11 In Zion haben sie unsere Frauen vergewaltigt,
in den Städten Judas vergingen sie sich an den Mädchen.
12 Sie haben die führenden Männer aufgehängt
und die Obersten all ihrer Ehre beraubt.
13 Unsere Männer müssen Korn mahlen wie Sklaven,
die Jungen brechen beim Holzschleppen zusammen.
14 Die Alten sitzen nicht mehr am Stadttor beieinander,
und die Jungen spielen keine Instrumente mehr.
15 Aus unserem Leben ist alle Freude verflogen,
das Singen und Tanzen ist zum Trauerlied geworden.
16 Wir haben unseren Ruhm und Glanz verloren;[e]
es ist aus mit uns, weil wir gegen Gott gesündigt haben.
17 Darum ist unser Herz traurig und krank,
und unsere Augen sind müde vom Weinen.
18 Denn der heilige Berg Zion ist verwüstet,
wilde Füchse streunen nun dort umher.

19 Aber du, Herr, regierst für immer und ewig,
ja, du bist König für alle Zeiten.
20 Warum hast du uns all die Jahre vergessen?
Willst du uns etwa für immer verlassen?
21 Herr, führe uns doch zurück zu dir,
damit wir zu dir umkehren können!
Lass unser Leben wieder so sein wie früher!
22 Oder hast du uns für immer verstoßen?
Hat dein Zorn über uns denn kein Ende?

Footnotes

  1. 3,22 So nach einigen hebräischen Handschriften und alten Übersetzungen. Der hebräische Text lautet: Durch die Güte des Herrn sind wir noch nicht am Ende.
  2. 3,24 Wörtlich: der Herr ist mein Erbteil.
  3. 4,3 Die Straußenhennen galten als schlechte Mütter, da sie das Nest verließen, um die Eier in der Sonne brüten zu lassen. Vgl. Hiob 39,13‒17.
  4. 4,7 Wörtlich: Ihre Fürsten waren reiner als Schnee, weißer als Milch, ihr Leib röter als Korallen, ihre Gestalt wie Saphir.
  5. 5,16 Wörtlich: Die Krone ist uns vom Kopf gefallen.